Jean-Daniel Ruch, ehemaliger Botschafter und Präsident des neu gegründeten Geneva Centre for Neutrality, fordert eine offene Diskussion, um die internationale Glaubwürdigkeit der Schweiz zu bewahren.
Die Schweizer Neutralität ist ein Erbe, das über 500 Jahre alt ist, doch in der gegenwärtigen geopolitischen Landschaft gerät es zunehmend unter Druck. Die aktuelle Situation, geprägt von den Spannungen in der Ukraine, einem aufkommenden US-chinesischen Handelskrieg und einer zunehmend unberechenbaren internationalen Politik, fordert eine grundlegende Reflexion über den außenpolitischen Kurs der Schweiz.
Jean-Daniel Ruch, ehemaliger Botschafter und Präsident des von ihm und Mitstreitern neu gegründeten Geneva Centre for Neutrality, stellt fest, dass das Vertrauen in die Schweizer Neutralität ins Wanken geraten ist. Insbesondere die Entscheidung des Schweizer Bundesrats, EU-Sanktionen gegen Russland zu erlassen, nachdem er zunächst ablehnend war, habe viele Fragen aufgeworfen, erklärte er in diesen Tagen in einem Interview. Auch die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) publizierte am Wochenende einen ausführlichen Beitrag über Ruch.
Es habe zuerst geheißen, die Sanktionen sollen nicht voll übernommen werden, sondern der entsprechende Verkehr auf den courant normal beschränkt werden, das heißt: es dürfen keine Umgehungsgeschäfte getätigt werden. Dann habe die Schweiz aber doch praktisch voll mitgemacht. Es habe wohl extrem starken Druck gegeben, vermutet Ruch, aber das sei nicht offengelegt und ein Mitmachen bei den Sanktionen auch nicht sauber begründet worden. Er ergänzte:
«Es wäre falsch zu sagen, dass unsere Neutralität ihre Glaubwürdigkeit vollständig verloren hat. Es gibt jedoch erhebliche Missverständnisse, sowohl im Inland als auch international.»
Ruch verweist auf die uneinheitliche Haltung der Schweiz zu internationalen Konflikten, etwa zum israelisch-palästinensischen Konflikt, bei dem sich die Schweiz stärker auf die Seite von Israel schlägt. Dieser Widerspruch und die geopolitische Zerrissenheit hätten das Bild der Neutralität geschädigt. «Es wird Zeit, dass wir einen offenen öffentlichen Dialog führen, um die Zukunft unserer Neutralität zu gestalten», fordert Ruch.
Die Äußerungen Ruchs kommen in der Zeit, wo die Schweiz daran ist, eine außenpolitische Kehrtwende in Richtung einer etwas konsequenteren Neutralität hinzulegen (wir haben hier darüber berichtet). Ob das aus Angst vor einer möglichen Zustimmung zur Neutralitätsinitiative, über die wohl im nächsten Jahr abgestimmt wird, erfolgt, ob es mit dem Rücktritt der NATO-freundlichen Verteidigungsministerin Viola Amherd zusammenhängt oder mit der Zeitenwende nach der Amtsübernahme von Donald Trump?
Besonders in der Zeit von US-Präsident Donald Trump, der eine Politik der Stärke und des Durchgreifens verfolgt, sieht Ruch die Schweiz in einer heiklen Lage.
«Die Schweiz hat keinen klaren Plan, wie sie mit der amerikanischen Außenpolitik umgehen soll», sagt er. «Unser wirtschaftliches Interesse bestimmt die Beziehungen zu den USA, aber Trump lässt wenig Raum für neutrale Haltungen.»
Als Beispiel nennt er die Rolle der Schweiz in den Beziehungen zwischen den USA und dem Iran. Auch wenn die Schweiz als Vermittler zwischen den beiden Ländern agiert, habe sich die US-Politik zunehmend von dieser Rolle entfernt, wie die jüngsten Kontakte von Elon Musk mit dem iranischen Botschafter zeigen.