Partei ergreifen? Ja! Aber wofür?

Natürlich dürfen wir uns angesichts der immer heisseren Konflikte nicht passiv in die Neutralitätsecke verziehen. Unser Land und seine Menschen müssen Partei ergreifen. Aber wofür? Darauf kann es nur eine Antwort geben: für das Völkerrecht!

Fast alle Konfliktparteien berufen sich heute auf das Völkerrecht: Russland begründet seine Invasion auf die Pflicht, seine Verbündeten, die von der Ukraine abgespaltenen Republiken Donetzk und Lugansk, vor den ukrainischen Angriffen zu schützen – die sogenannte «responsibility to protect». Israel beruft sich im Gazakrieg auf das Recht der Selbstverteidigung, und selbst im Streit um Taiwan machen beide Seiten völkerrechtliche Grundsätze geltend.

Ein Teil des Problems besteht darin, dass das Völkerrecht kein in sich geschlossener, konsistenter Rechtskörper ist, der zu allen Fragen eindeutige Antworten liefert. Es besteht zu einem guten Teil aus Konventionen und Verträgen, die nicht alle Staaten ratifiziert haben. Vor allem aber gibt es viele Bestimmungen, die von einzelnen Staaten gar nicht angewendet werden, weil sie vom Sicherheitsrat, der theoretisch über das Gewaltmonopol verfügt, nicht durchgesetzt werden. Beispielhaft ist die UNO-Resolution 446, die Israel die Besiede­lung der besetzten Gebiete verbietet. Israel stellt sich auf den Standpunkt, dass diese Gebiete, namentlich das Westjordanland und der Gazastreifen, zum Zeitpunkt der Besetzung gar nicht zum Gebiet eines Staates gehörten, der die Vierte Genfer Konvention unterzeichnet hat, auf die sich die Resolution bezieht.

Die wachsenden Konflikte pauschal mit Völkerrecht lösen zu wollen, tönt gut, ist aber illusionär. Vielleicht ist es sogar schon so, dass die geopolitischen Verhältnisse bereits derart aus dem Ruder gelaufen sind, dass sie nicht mehr friedlich zu lösen sind. Die gegenwärtigen Aussichten sind jedenfalls so unfreundlich, dass viele Staaten nur noch von Gewalt sprechen und sich viele Menschen in ihren Kokon zurückziehen und die Geopolitik von ihrer Wahrnehmung ausschliessen.

Es gibt aber einen fundamentalen Grundsatz für das Zusammenleben der Staaten, der jetzt schon angewendet werden könnte oder zumindest eingefordert werden sollte: das Gewaltverbot gemäss Artikel 2, Abs. 4 der UNO-Charta. Es hätte zwar etwas deutlicher formuliert werden dürfen, aber es gilt nichtsdestotrotz:

«Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.»

Auf das Verbot der Anwendung von Gewalt beziehen sich die Staaten immer wieder, gerne auch solche, die den ersten Teil des Verbotes – die Androhung – durchgehend missachten. Man kann die beiden Aspekte aber nicht getrennt voneinander behandeln, nicht nur, weil sie in einem einzigen völkerrechtlichen Grundsatz formuliert werden, sondern weil sie in innigster Verbindung miteinander stehen: Wem dauernd Gewalt angedroht wird, der wird früher oder später mit der Anwendung von Gewalt antworten. Wer ständig mit der Waffe droht, wird sie früher oder später einsetzen, allein schon zum Erhalt der Glaubwürdigkeit.

Zudem ist die Androhung von Gewalt ein Machtmittel, um Vorteile zu erringen, die auf rechtlicher Basis oder im fairen Wettbewerb nicht zu erreichen sind. Ein Rüpel, der seine Mitschüler auf dem Schulhof mit der Androhung von Gewalt terrorisiert und sich damit Vorrechte sichert, wird früher oder später echte Gewalt ernten – nämlich dann, wenn die Schüler oder die Schulbehörden erkennen, dass Frieden erst einkehrt, wenn der Unterdrücker unmissverständlich in die Schranken oder vielmehr von der Schule gewiesen wird oder eine andere Lektion erfährt, die er versteht.

Das Verbot der Androhung von Gewalt ist auf unserer Welt buchstäblich versunken. Fast niemand kennt es, es hat keinen institutionellen oder staatlichen Anwalt, und es wurde vor dem Internationalen Gerichtshof, der dafür zuständig wäre, auch nie eingeklagt. Es ist zwar in der UNO-Charta festgeschrieben, die von allen Mitgliedern unterzeichnet wurde. Aber es existiert faktisch nicht.

Wenn die Schweiz es sich jetzt überlegt, wie sie ihre Neutralität verstehen und praktizieren will, erscheint das Verbot der Androhung von Gewalt als idealer Ausgangs- und Orientierungspunkt. Das Verbot der Gewaltandrohung der UNO hat auf der Welt keinen einzigen Fürsprecher. Nicht einmal die UNO selbst ergreift Massnahmen, wenn ein Staat oder seine Vertreter Gewalt androhen.

Was könnte die Schweiz tun? Sie könnte ein offizielles Gremium einrichten, das Androhungen von Gewalt registriert und mit verschiedenen Instrumenten ahndet. In einem ersten Schritt könnte der Verstoss gegen das Gewaltverbot dem betreffenden Staat und seinem Vertreter in einer vertraulichen diplomatischen Note zur Kenntnis gebracht werden. Im Wiederholungsfall müsste der Verstoss öffentlich gemacht und in besonders harten Fällen vor den Internationalen Gerichtshof gebracht werden. Und natürlich würden periodisch Berichte über das Verbot der Androhung von Gewalt erscheinen, in denen die Wiederholungstäter namentlich genannt werden.

Natürlich hat die gegenwärtige Schweiz nicht den Mut, ihre Neutralität auf diese Weise aktiv zu leben. Eine etwas schwächere Form wäre die öffentliche Finanzierung einer Stiftung, die sich des Verbots der Androhung der Gewalt annähme. In den Kommissionen dieser Stiftung könnten dann auch Völkerrechtsexperten anderer Länder Einsitz nehmen.

Leider wird auch dies nicht geschehen. Ähnlich trist sieht es auf der nächsttieferen Stufe aus, der Zivilgesellschaft: Keine Organisation weit und breit, die sich dieses Verbots annimmt. Einer der wenigen, der sich seit Jahren und sehr prominent für das Gewaltverbot der UNO stark macht, ist der Basler Historiker und Friedensforscher Daniele Ganser. Wie es jemandem mit einem solchen Anliegen ergeht, sieht man an der Presse, die der mutige Mann erhält.

Was lässt sich daraus ableiten? Man kann den Einsatz für das Gewaltverbot der UNO nicht Staaten oder wenigen Individuen überlassen. Warum schreiben nicht wir als Menschen an der Basis der Gesellschaft Briefe an Vertreter von Staaten, die Gewalt androhen? Wir stossen in den Medien ja mehr oder weniger dauernd auf Verstösse und gehen leichtfertig darüber hinweg. Wenn wir im öffentlichen Raum auf Gewalt stossen, schauen wir ja hoffentlich auch nicht einfach weg!

Es wäre einfach: Adresse der Institution herausfinden, in deren Namen die betreffende Amtsperson Gewalt androht, und sie in einem einfachen Brief auf den Verstoss aufmerksam machen, mit Zitat der inkriminierten Äusserung sowie des Gewaltverbots gemäss Artikel 2, Abs. 4 der UNO-Charta und mitsamt der Aufforderung, Verstösse in Zukunft zu unterlassen.

Man sollte davon freilich keine sofort sichtbare Wirkung erwarten. Aber, und das ist das Wunder des menschlichen Geistes: Man ist seinem Gewissen gefolgt, hat getan, was man kann, und das ist auf eine unerklärliche Weise ansteckend. Wir erkennen doch alle intuitiv Menschen, die sich selber treu sind – ohne dass diese darauf hinweisen. Und sie hinterlassen – zumindest bei mir – den stillen Auftrag, dem Beispiel zu folgen.

Die Zeiten sind nun wirklich nicht einfach. Die Menschen in Europa werden auf einen grossen Krieg mit Russland vorbereitet. Die Völker müssen kriegstüchtig werden bis hin zu Taschenlampen, wie der niederländische Admiral Rob Bauer, Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, kürzlich vor den Medien sagte.

Es ist Menschenpflicht, dieser Kriegstreiberei etwas entgegenzusetzen, zumal die staatlichen Organe untätig bleiben. Das Gewaltverbot der UNO, vor allem das Verbot der Androhung von Gewalt, gibt uns den völkerrechtlichen Hebel, das zu tun, was wir können: die Stimme erheben und das Recht einfordern.

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