Wie Carl Spitteler im Jahr 1914 einer gespaltenen Schweiz ins Gewissen redete.
«Mit Ehrfurcht und warmer Sympathie begrüsst unser Volk den grossen Beherrscher des mächtigen deutschen Reiches», konnte man am 3. September 1912 in der NZZ lesen, nachdem am Vortag der deutsche Kaiser die Hauptstadt der Schweiz besucht hatte.
Tausende von Zürcherinnen und Zürchern, darunter viele Deutsche, jubelten dem deutschen Kaiser zu, als dieser sich im September 1912 vom Hauptbahnhof Zürich zur Villa Wesendonck fahren liess. Noch gab es in der Deutschschweiz kaum Vorbehalte gegen den grossen Nachbarn; man fühlte sich dem Reich kulturell und wirtschaftlich verbunden. Daran änderte auch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs am 28. Juli 1914 nichts.
Indes, derweil ein grosser Teil der Deutschschweiz fürs Deutsche Reich Partei nahm, positionierte sich die Romandie anders: In der welschen Schweiz wurden die Entente-Mächte Frankreich und England favorisiert. Durch die Schweiz zog sich ein tiefer Graben.
Die verfahrene Situation rief den Publizisten und freien Schriftsteller Carl Spitteler (1845–1924) auf den Plan. Er, der mit dem Epos «Olympischer Frühling» Furore gemacht hatte und 1919 den Nobelpreis erhalten würdet, liess sich Ende 1914 vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft wie folgt vernehmen: «Wir haben es dazu kommen lassen, dass (…) zwischen dem Deutsch (…) und dem Französisch sprechenden Landesteil ein Stimmungsgegensatz entstanden ist. (…) Diesen Gegensatz leicht zu nehmen, gelingt mir nicht.» Und er stellte die rhetorische Frage: «Wollen wir die Stimmungsäusserungen unserer anderssprachigen Eidgenossen einfach ausser Acht lassen, weil sie in der Minorität sind?»
In der Schweiz sehe man grundsätzlich von niemandem ab, wäre die Minorität auch zehnmal kleiner. Carl Spittelers Haltung zielte auf den inneren Frieden: «Wir sollen einig fühlen, ohne einheitlich zu sein.» In seiner unter dem Titel «Unser Schweizer Standpunkt» bekanntgewordenen Rede hielt er am Ende fest: «Wohlan, füllen wir (…) unsere Seelen mit Andacht! (…) Dann stehen wir auf dem richtigen neutralen, dem Schweizer Standpunkt.»
Spittelers Rede entfaltete die gewünschte einigende Wirkung, sie ging in die Annalen unseres Landes ein. Im Deutschen Reich verlor der Schriftsteller einen grossen Teil seiner Leserschaft. Darin ist, aus heutiger Warte, ein Gütesiegel zu sehen.